Pervers? Aber ja!

Source: wikicommons

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Über „Das Streben nach Normalität“ habe ich kürzlich geschrieben. Heute ergänze ich den fehlenden Rest: Die Perversion.
*tam-tam-taammmmm*

Normalität und Perversion können nicht mit- und nicht ohneeinander. Sie sind seit Jahrtausenden miteinander verheiratet und langweilen sich nie, weil sie sich ständig modisch verändern. Diese Moden dauern schon mal hundert Jahre, nicht nur eine Saison, so wie die Clutch. Aber es sind trotzdem nichts anderes als Moden.

(Ja, die Clutch ist vorbei, Leute…)

Früher mal waren dünne, emotionale Frauen unnormal, vor allem wenn sie pink trugen. Manchmal galten Männer als pervers, wenn sie unverheiratet waren, aber nicht, wenn sie sich neben ihrer Frau noch Knäblein hielten.

Im vergangenen Jahrhundert, und weiterhin, kämpfen Lesben, Schwule, Trans, Inter und viele mehr mit dem Wort „pervers“. In der Lesben- und Schwulenbewegung der 70er und 80er wurde versucht, „pervers“ zu claimen – also den Begriff positiv zu besetzen und so den Homophoben ihre Waffe zu entreißen. Vorbild war dabei die englische Vokabel „queer“. „Queer and proud“ ist im anglophonen Raum längst zu einem Bonmot geworden, ebenso beliebt wie das durch die Zähne gezischte „fucking queer“.

Mit „pervers“ hat das nicht funktioniert. Zwar kann die Himbeermascarpone-Torte „pervers geil(o)“ sein, aber „Identität: pervers“? No way. Eher noch versuchen wir LGBTI heute, die „Normalität“ unserer Identitäten zu unterstreichen. Das hat auch mti den Wörtern selbst zu tun. „pervers“ und „queer“ bedeuten zwar lexikalisch erstmal beide „von der Norm abweichend“. Aber da schwingt noch mehr mit. „Queer“ ist „eigenartig, fremdartig, exzentrisch“ und weckt damit das Interesse, die Neugier, sich mit dem „Queeren“ (aus sicherer Distanz) zu beschäftigen.

„Queere“ Dinge sind außergewöhnlich, vielleicht störend, aber nie bedrohlich. In Robert Frosts Gedicht „Stopping by Woods on a Snowy Evening“ heißt es:

„My little horse must think it queer
To stop without a farmhouse near
Between the woods and frozen lake
The darkest evening of the year.“

Das Pferdchen ist hier höchstens irritiert oder genervt, weil das Lyrische Ich in der eisigen Hölle anhalten muss um sich die Natur und alte Versprechen zu vergegenwärtigen. Es wäre weitaus mehr in Aufruhr, wenn man übersetze:

„Dem Pferd erscheint’s gewiss pervers…“

Denn „pervers“ enthält die Ebene der Gefahr, die aus der psychiatrischen Definition kommt. Wer nicht ganz normal ist, der ist zu allem fähig und damit tunlichst zu meiden – oder schlimmer noch: zu heilen. Wir sehen das gerade in der Debatte um die Ehe für Alle, wo wieder das Dammbruch-Argument aus den Mottenkisten geholt wird: „Aber…aber… wenn die Ehe nicht mehr auf Mann und Frau beschränkt ist, wer sagt dann, dass man morgen nicht auch seine Geschwister, seinen Hamster oder eine Zylinderkopfdichtung heiraten darf?!“

Letztlich ist es allen, sogar der CSU, total egal, wer hier wen heiratet. Es geht nur um die Rettung der „Normalität“ (das was man kennt und einschätzen kann) vor der „Perversion“ (das was neu ist, und daher gefährlich). „Pervers“ sind viele tolle, ungefährliche und spaßige Sachen, die Menschen ständig praktizieren, solange keine_r guckt.

Während sich die Normalos fünfzig Grautöne null-innovatives Liebesspiel im Kino reinziehen, erleben und betreiben Menschen täglich Perversion. Und sie schaffen sich selbst die nötigen Regeln und Umgangsformen, die man öffentlich nicht aushandeln darf. Das gilt für gleich- und zwischengeschlechtliche Liebe wie für SM, Polyamory und behinderte Sexualität (dazu übrigens unbedingt das hier lesen). Die Perversion ist der Raum, wo wir selbst täig werden können, eigene Regeln aufstellen und neue Möglichkeiten für Liebe und Lust entdecken – während wir uns in der Normalität Ketten anlegen lassen (und zwar nicht als Fetisch).

Wer den letzten Artikel gelesen hat (*räusper*) weiß, dass ich am Streben nach Normalität nichts schlimmes finde. Aber wer nur noch normal sein will, stößt viele von sich weg. In der Perversion aber können wir mit anderen solidarisch sein, mit denen wir sonst vielleicht nichts teilen. Das wusste die Bewegung, als sie „Wir sind pervers“ zur politischen Parole gemacht hat. Jahrzehnte später sind wir immer noch pervers – und darauf müssen wir auch, Göttin sei dank, nicht verzichten.